„Aussiedler“ 📖 – was ist das für ein Status, und wie hängt er mit Vorstellungen und Erzählungen von Identität zusammen?
Die Aufnahme als Aussiedler hat den Lebensweg von fast 2,5 Millionen Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion entscheidend geprägt. Sie markiert für sie nicht nur die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland und damit den Beginn eines neuen Lebensabschnitts weit weg von ihrem Herkunftsort – in Russland, Kasachstan oder anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Sie ist auch mit einer Reihe von bürokratischen Prozeduren verbunden, in denen die deutsche Identität durch Verwaltungsbeamte überprüft wird. Das Deutschsein der Einreisenden wird hier also zur bürokratischen Beweislast: Nur diejenigen, die es während des Aufnahmeverfahrens erfolgreich nachweisen können, werden letztendlich auch als Aussiedler registriert und aufgenommen. Mit dem Verleih der deutschen Staatsangehörigkeit werden sie vom deutschen Staat schließlich offiziell zu Deutschen gemacht. In manchen Fällen ändert sich im neuen Pass sogar der Name: Sergej heißt jetzt Siegfried. Die offiziell verliehene Identität wird damit zur „Eintrittskarte“ in die Bundesrepublik Deutschland.
Doch wie wird man überhaupt zum Aussiedler? Wie wird darüber entschieden, was als deutsche Identität gilt und was nicht? Und wie wirkt sich diese Entscheidung auf das Leben der Menschen aus, die mit so unterschiedlichen und vielschichtigen Biographien, Erfahrungen und Hintergründen nach Deutschland einreisen? Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, lohnt es sich, die verschiedenen Etappen der Aussiedleraufnahme einmal genauer in den Blick zu nehmen. 📖
Der erste Schritt einer Aufnahme als Aussiedler beginnt im Herkunftsland – für postsowjetische Migranten also in Russland, Kasachstan, Usbekistan oder einem anderen Land der ehemaligen Sowjetunion. Wer nach Deutschland einreisen möchte, muss zunächst bei einer deutschen Botschaft oder einem deutschen Konsulat einen schriftlichen Antrag stellen, der dann an das Bundesverwaltungsamt 📖 in Deutschland weitergeleitet wird.
Zunächst einmal sind es also Dokumente, Formulare, Ausweiskopien und Protokolle, anhand derer sich entscheidet, wer als Aussiedler nach Deutschland einreisen darf. Sie stehen quasi stellvertretend als stumme Zeugen für die vielschichtigen Identitäten und Lebensgeschichten der Menschen, die einen Aufnahmeantrag stellen. Da diese Papiere nicht von sich aus sprechen können, werden sie von den dafür zuständigen Verwaltungsbeamten „zum Sprechen gebracht“. Ohne die Person, die den Antrag stellt, zu kennen, rekonstruieren sie deren Lebensgeschichte und sammeln Indizien für oder gegen eine deutsche Identität.
Insbesondere Personaldokumente wie Geburtsurkunden, Heiratsurkunden und Ausweisen werden von den Verwaltungsbeamten stellvertretend als Nachweise herangezogen, um die deutsche Abstammung sowie das sogenannte „Bekenntnis zum deutschen Volkstum“📖 zu überprüfen. Geburtsurkunden oder Heiratsurkunden, in denen die deutsche Nationalität (natsional‘nost‘) eingetragen ist, gelten beispielsweise als wichtigster Hinweis darauf, dass die Person, die den Antrag stellt, sich bereits in ihrem Herkunftsland zu ihrer deutschen Nationalität bekannt hat und sich ihr auch weiterhin zugehörig fühlt. Auch weitere Angaben, wie der in der Urkunde eingetragene Name oder der Geburtsort von Eltern oder Großeltern, werden von den Beamten als Indizien für eine deutsche Herkunft herangezogen. So wird ein deutsch klingender Name wie beispielsweise Meyer oder Schultz, oder eine Herkunft aus den ehemaligen deutschen Siedlungsgebieten an der Wolga als positiver Hinweis für die russlanddeutsche Abstammung der antragsstellenden Person gewertet.
Auf der anderen Seite kann all das, was eher auf eine russische Zugehörigkeit oder eine zu starke Assimilation an die sowjetische Gesellschaft hindeutet, potentiell als sogenannter „Ausschlusstatbestand“ interpretiert werden, der zu einer Ablehnung führen kann. Das hängt mit dem sogenannten „Kriegsfolgenschicksal“ zusammen, auf dem die Aufnahme von Russlanddeutschen als Aussiedler basiert. Generell wird dabei davon ausgegangen, dass Russlanddeutsche aufgrund der Massendeportation durch Stalin nach dem Zweiten Weltkrieg sowie ihrer Diskriminierung und Benachteiligung in der Sowjetunion noch immer unter den Folgen des Zweiten Weltkriegs leiden. Auf Grundlage dieser bleibenden Benachteiligung werden Russlanddeutsche bis heute als Opfer sowjetischer Verfolgung in Deutschland aufgenommen. Der Nachweis des Deutschseins ist also auch immer mit der vermuteten Unterdrückung durch das sowjetische System verknüpft. Eine Identifikation als Russe, oder auch eine höhere berufliche Stellung in der Sowjetunion spricht also aus Sicht der Beamten für eine Anpassung an das sowjetische System und damit gegen eine fortdauernde Verfolgung als Deutsche.
Aus der Perspektive der Antragsstellenden ist die Verfolgung als Deutsche aber häufig nur schwer nachzuweisen, auch angesichts ambivalenter Erfahrungen in der Sowjetunion. Viele russlanddeutsche Familien in der Sowjetunion haben aufgrund der Traumatisierung in Folge von Deportation und Zwangsarbeit Erinnerungen an die Vergangenheit verdrängt oder tabuisiert. Um ihr Stigma als Deutsche nicht an ihre Kinder weiterzugeben, versuchten einige, ihre deutschen Namen zu ändern und ihre Repressionserfahrungen zu verschweigen 📖 . Außerdem kam es in der ethnisch gemischten Gesellschaft der Sowjetunion in den folgenden Generationen häufig zu binationalen Ehen zwischen Russlanddeutschen und Menschen mit russischer oder anderer Nationalität.
So entsteht in der Praxis ein Paradox: Denn wer sein Deutschsein stark verdrängte und tabuisierte, seinen Namen änderte oder die Papiere der deutschen Vorfahren vernichtete, tat dies oftmals gerade deswegen, weil er selbst oder seine Vorfahren zum Opfer sowjetischer Repressionen geworden war. Gleichzeitig ist es aber genau diese Repression als Deutsche, die plötzlich im Aussiedleraufnahmeverfahren wieder relevant wird und durch Dokumente nachgewiesen werden muss. Der Rechtfertigungsdruck, deutsch zu sein und damit Opfer des sowjetischen Systems, kann dann in der Folge wiederum dazu führen, dass manche Russlanddeutsche selbst positive Erinnerungen an ihr Leben in der Sowjetunion eher ausblenden .
Durch die binäre Kategorisierung der Beamten entsteht also ein Bild vom Deutschsein, das den ambivalenten Erfahrungen und Lebenswegen von Deutschen in der Sowjetunion häufig nicht gerecht wird. Es handelt sich vielmehr um ein Idealbild, das mit bestimmten Charakteristiken wie Namen, Geburtsort, Nationalitätenerklärung und einem kollektiven Narrativ von Verfolgung und Unterdrückung verknüpft ist. Die Menschen, deren Dokumente diesem Idealbild am ehesten entsprechen, haben die besten Chancen, als russlanddeutsche Aussiedler aufgenommen zu werden. Menschen, deren Biographie jedoch aus Sicht der Beamten zu stark von diesem Narrativ abweicht, oder die keine Dokumente haben, bestimmte Erfahrungen nachzuweisen, werden unter Umständen als „nicht deutsch genug“ eingeordnet und damit von einer Aufnahme als Aussiedler ausgeschlossen.
Durch diese alltägliche Einteilungs- und Identifikationsarbeit tragen die Beamten dazu bei, die Grenzen zwischen „Deutschen“ und „Nicht-Deutschen“ immer wieder neu zu ziehen. Nationale Identität wird hier buchstäblich zum Ticket, das über Ein- oder Ausschluss nicht nur vom Deutschsein, sondern auch vom deutschen Territorium entscheidet.
Um als Aussiedler aufgenommen zu werden, müssen die Kandidatinnen und Kandidaten ihre Identitäten jedoch nicht nur durch Dokumente, sondern auch in direkten Befragungen durch Verwaltungsbeamte unter Beweis stellen. Auch diese Überprüfung beginnt bereits im Herkunftsland mit dem sogenannten „Sprachtest“, den jeder Kandidat und jede Kandidatin absolvieren muss, sobald ein Antrag gestellt wurde. Dieser Test besteht aus einem etwa 20-minütigen Gespräch mit einem Verwaltungsbeamten vor Ort: Die Kandidaten und Kandidatinnen werden auf deutsch zu Themen des täglichen Lebens befragt. Dadurch soll überprüft werden, ob und wie gut jemand ein Gespräch in deutscher Sprache führen kann.
Ist diese erste Hürde genommen, steht den Kandidaten und Kandidatinnen jedoch auch nach der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland eine weitere Überprüfung bevor. Diese findet direkt im Aufnahmelager 📖 statt, wo sich die Einreisenden nach ihrer Ankunft einfinden müssen. Im Rahmen einer sogenannten „Plausibilitätsprüfung“ wird nochmals kontrolliert, ob die Sprachkenntnisse und die persönlichen Daten aus Sicht der Beamten „glaubwürdig“ sind. Dazu gleichen die Beamten die Angaben aus den Dokumenten mit den Aussagen der Einreisenden ab. Erst, wenn sie zu dem Schluss gekommen sind, dass beides übereinstimmt, werden die Einreisenden als Aussiedler registriert und dürfen das Aufnahmelager verlassen.
In diesem Teil des Verfahrens ist die Darstellung und Erzählung von Identität von großer Bedeutung. Um vor den Beamten glaubhaft zu wirken, müssen die Einreisenden ihr Deutschsein durch ihre persönlichen Erzählungen untermauern und bestätigen. Sie haben also ein Interesse daran, genau die Stränge ihrer vielschichtigen Biographie hervorzuheben, die am ehesten dem Idealbild einer russlanddeutschen Identität entsprechen. So werden zum Beispiel Erzählungen aus der Familienvergangenheit, die sich auf das Leben der Deutschen aus Russland in den ehemaligen Siedlungsgebieten oder ihre Verfolgung und Deportation beziehen, als glaubwürdige Hinweise für die „echte“ Herkunft der Antragsteller gewertet. Gleichzeitig sind es aber genau diese Geschichten, die in russlanddeutschen Familien in der Sowjetunion häufig nicht erzählt, sondern tabuisiert und verschwiegen wurden.
Ein weiterer Aspekt, bei dem die Darstellung von Identität zum Tragen kommt, ist der Dialekt. Obwohl der gesprochene Dialekt offiziell nicht in die Bewertung der deutschen Sprachkenntnisse mit einfließt, ist er in der Praxis oft doch von Bedeutung. Von vielen Beamten wird ein „typisch russlanddeutscher Dialekt“, wie er beispielsweise in den Siedlungsgebieten an der Wolga gesprochen wurde, als Hinweis darauf gesehen, dass die antragsstellende Person ihre Sprachkenntnisse in der Familie erworben hat und nicht in einem Sprachkurs erlernt hat. Dies fällt meist positiv als Nachweis für eine authentisch deutsche Herkunft ins Gewicht.
Gleichzeitig ergibt sich aber auch hier für viele Russlanddeutsche wieder ein Paradox: Da die deutsche Sprache in der Sowjetunion lange als Makel galt, hörten viele Russlanddeutsche auf, ihren deutschen Dialekt in der Familie zu sprechen und an ihre Kinder weiterzugeben. Mangelnde deutsche Sprachkenntnisse können also unter Umständen auch auf eine Unterdrückung als Deutsche hindeuten, werden aber in der administrativen Praxis meist als Hinweis auf eine fehlende Identifikation als Deutsche gewertet.
Bei diesem mündlichen Teil des Verfahrens spielt aber auch die emotionale Dynamik eine große Rolle. Für die meisten Einreisenden ist die Befragung durch die Beamten mit großen Ängsten, Unsicherheit und Einschüchterung verbunden. Selbst, wenn sie noch familiär erworbene deutsche Sprachkenntnisse haben, sind sie häufig mit der formalen Verwaltungssprache nicht vertraut und haben Schwierigkeiten, die gestellten Fragen zu verstehen. Diese Unsicherheit verstärkt sich noch durch die besondere Situation der Prüfung. Viele der Fragen, die von den Beamten gestellt werden, vermitteln den Einreisenden das Gefühl von Zweifel oder Misstrauen an der „Echtheit“ ihrer Identität. Da ihnen bewusst ist, dass das Gespräch unter Umständen über ihre Einreise entscheidet, erhöht sich der Druck, die gestellten Fragen korrekt zu beantworten. All dies trägt dazu bei, dass das Aufnahmegespräch und die damit verbundenen Umstände von den meisten Antragstellern und Antragstellerinnen als eine beängstigende und einschüchternde, zum Teil auch erniedrigende Erfahrung empfunden wird, die ihre Selbstwahrnehmung prägt.
Sobald die Aufnahme als rechtmäßig bestätigt wurde, werden die Einreisenden noch im Aufnahmelager als Aussiedler registriert. Sie können dann auch die russisch klingenden Vor- oder Nachnamen durch ein spezielles administratives Verfahren „eindeutschen“, also ihre alten Namen ablegen und in einen deutsch klingenden Namen umwandeln. Diese „Eindeutschung“ zeigt vielleicht am deutlichsten, wie stark die deutsche Bürokratie in die Lebenswege der Einreisenden eingreift. Durch den Eintrag des neuen Namens im neuen Pass wird die deutsche Identität buchstäblich sichtbar.
Diese Praxis der „Eindeutschung“ von russisch klingenden Vor- oder Familiennamen wurde mit der Absicht eingeführt, Russlanddeutschen ihre Integration in Deutschland zu erleichtern 📖 . Sie bietet zum Beispiel die Möglichkeit, den im deutschen Namensrecht nicht vorgesehenen Vatersnamen – wie zum Beispiel Petrowna oder Iwanowitsch – abzulegen. Einige Russlanddeutsche nutzen auch die Gelegenheit, den ursprünglich deutschen Mädchennamen ihrer Mutter oder Großmutter als neuen Familiennamen zu übernehmen. Außerdem können so Namen, die durch die Transliteration ins Kyrillische verändert wurden, nach der Einreise wieder eingedeutscht werden – beispielsweise der Name Gans in Hans, oder der Name Miller in Müller. Dadurch soll den Einreisenden die Möglichkeit gegeben werden, einer Stigmatisierung als „Russen“ durch einen fremd klingenden Namen zu entgehen und als „Deutsche unter Deutschen“ quasi unsichtbar zu werden.
Allerdings hat die Namensänderung – die eigentlich als Service oder Angebot gedacht ist – manchmal auch weitreichendere, teilweise auch ungewollte Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen. Das zeigt sich vor allem dann, wenn die Eindeutschung auch die Vornamen betrifft: Von Sergej zu Siegfried, von Wladimir zu Waldemar, von Jelena zu Helene, oder von Jewgeni zu Eugen – die Änderung des Vornamens ist eine geteilte Erfahrung vieler Russlanddeutscher, die seit den 1990er Jahren nach Deutschland eingereist sind. Wie der russlanddeutsche Autor Eugen Litwinow in seinem Buch Mein Name ist Eugen beschreibt, gehen die Betroffenen sehr unterschiedlich mit diesem tiefgreifenden Einschnitt um 📖 . Viele bleiben in der Familie dann etwa Jewgeni oder Shenja und nennen nur in bestimmten Situationen ihren deutschen Namen Eugen – wie zum Beispiel bei offiziellen Terminen oder in der Schule. Häufig machen sie aber die Erfahrung, dass sie auch mit ihrem oft als altmodisch wahrgenommen deutschen Namen weiterhin als Fremde identifiziert werden. Die Hoffnung auf eine verbesserte Integration durch einen neuen Namen erfüllt sich also nur teilweise.
Hier wird das komplexe Zusammenspiel zwischen bürokratischen Praktiken und russlanddeutschen Lebensrealitäten besonders deutlich. Einerseits haben die verschiedenen Prozeduren einen tiefgreifenden Effekt auf das Leben der Menschen, die sich ihnen unterziehen müssen. Durch die Registrierung als Aussiedler werden ihre heterogenen Biographien auf einen einzigen Aspekt reduziert – ihre Identität als Deutsche – verknüpft mit einem „typisch deutschen“ Namen, einem Dialekt, einer Herkunftsregion, der familiären Verfolgungsgeschichte und einem Nationalitäteneintrag im Pass. Diese idealtypische Identität wird zur Eintrittskarte, die den Lebensweg der einreisenden Menschen entscheidend prägt.
Schaut man aber einmal genauer hin, so zeigt sich, dass dieses einheitliche Bild den vielfältigen Geschichten und Erfahrungen von Hybridität und Mehrdeutigkeit der Menschen bei Weitem nicht gerecht wird. Russlanddeutsche Lebensrealitäten – sowohl im postsowjetischen Raum als auch in Deutschland – sind weit vielschichtiger, ambivalenter und hybrider, als die binären Kategorien des Nationalstaats dies erfassen können.