Sie kamen in den 1990er Jahren nach Deutschland: Frieda Fried, Valerian Franz und Alexandra Frank. Drei Generationen, drei Wege, drei Reiserouten in eine Zukunft, die mehr Sicherheit, bessere Zeiten und manchem eine Heimat versprach. Eine interaktive Karte.
Frieda Fried, Rentnerin, 82 Jahre, lebt in Spaichingen
Frieda Fried, geboren am 20. Dezember 1937 in der Kasachischen SSR, in einem deutschen Dorf. Sie war 61 Jahre alt, als sie mit ihrem Ehemann und ihren drei Enkelkindern nach Deutschland kam.
Ich bin 1937 in Kasachstan geboren. In einem deutschen Dorf namens Sosnowka . In Sosnowka waren lauter Deutsche, eigentlich nur Deutsche. Daher haben alle Deutsch gesprochen. Wirklich keiner konnte Russisch. Das habe ich erst nach dem Umzug nach Borodulicha gelernt.
Nach Borodulicha kamen wir 1969. In der Stadt haben Kasachen, Russen und Deutsche gelebt. Dort habe ich Russisch gelernt und angefangen, in einer Molkerei zu arbeiten. Es waren schwere Zeiten, während des Zweiten Weltkriegs hatten wir keine Nahrung und nach dem Krieg war Essen noch lange knapp.
Anfang der 1990er Jahre ist meine Tochter mit ihrer Familie nach Deutschland ausgesiedelt. Zuerst wollte ich nicht nach Deutschland ziehen. Aber meine Tochter hat meinen Mann und mich dazu ermutigt. Es war zwar in unserem Alter nicht einfach, aber ein Teil der Familie war bereits da. Im Februar 1998 begann unsere Reise nach Deutschland, die Entscheidung war lange schon gefallen. Wir haben unsere Wohnung verkauft, um alle Dokumente anfertigen zu lassen und Tickets zu besorgen.
In Nowosibirsk haben wir auf unseren Flug gewartet. Oben im Flughafen gab es ein Restaurant. Da wir nicht viel Geld hatten, konnten wir nicht reingehen. Wir haben stattdessen zwei Kilo frisch gebratenen Fisch gekauft und draußen gegessen. Aber es war sehr wenig. Mein Mann musste noch einmal hingehen und zusätzlich zwei Kilo Fisch kaufen.
Wir sind in Hannover gelandet. Meine Tochter, die bereits in Deutschland lebte, hat uns abgeholt. Die ersten zwei Wochen waren wir in einem Lager für Aussiedler in Empfingen .
Danach wohnten wir ein Jahr lang in Gosheim, auch in einem Aussiedlerlager. Wir hatten ein Zimmer zu fünft, dazu eine gemeinsame Küche, Toilette und Dusche. Zu der Zeit habe ich auch meine erste Rente in Deutschland bekommen. Dort war alles echt gut.
Wir haben bald eine Wohnung in Denkingen gefunden und diese eingerichtet. Dort war unser Zuhause, mein Mann und ich wohnten in dieser Wohnung sieben Jahre.
Danach sind wir nach Böttingen umgezogen, ins Dorf meiner Tochter. Gemeinsam mit meinem Mann lebte ich dort neun Jahre und drei weitere ohne ihn.
Mittlerweile bin ich ins Altersheim nach Spaichingen gezogen. Ich habe mich in Deutschland immer wohl und wie zu Hause gefühlt. Das mag auch daran liegen, dass meine ganze Familie und meine Enkelkinder hier leben.
Valerian Franz, Dezember 1993 eingereist
Valerian Franz, geboren am 6. August 1969 in der Sowjetunion. Er kam mit 24 Jahren nach Deutschland.
Ich habe fünf Jahre in Omsk studiert und nebenbei gearbeitet. Wir, meine Frau, ich und unsere zwei Kinder, hatten dort ein kleines Häuschen gemietet. In Omsk, entschieden wir uns für die Ausreise und stellten 1992 den Antrag für unsere „Einladung“ . Mein Maschinenbaustudium schloss ich im Sommer 1993 ab. Wir sind nicht aus wirtschaftlichen Gründen eingewandert: Ich bin damals im festen Glauben an meine Wurzeln und meinen familiären Hintergrund nach Deutschland gekommen. Auch die deutsche Sprache war mir schon als Kind im Alltag vertraut. Russisch lernten wir in der Schule. Nach dem Umzug aus einem deutschen in ein gemischtes Dorf gingen leider viele Sprachkenntnisse verloren, weil ich nur noch Russisch reden durfte.
Im August 1993 gingen wir nach Surgut. Ich habe dort eine Arbeit in der Erdölförderung bekommen. Wir blieben nur zwei Monate, weil im Oktober, nach einem Jahr des Wartens, schon die Einladungen aus der Bundesrepublik Deutschland kamen.
Meine Eltern sollten mit nach Deutschland kommen. Also kehrte ich im Oktober 1993 nach dem Erhalt der Einladung zurück in mein Heimatdorf, Asowo , um meinen Eltern beim Auflösen ihres Besitzes zu helfen. Meine Eltern besaßen in Asowo ein eigenes Haus, ein Gut, eigenes Vieh und Gärten. Ich persönlich musste nicht wirklich etwas aufgeben, da ich in meinen jungen Jahren noch nicht viel hatte. Als wir die Reise nach Deutschland antraten, dachten wir zuallererst an Bayern, da aus dieser Region auch unsere Vorfahren herkamen.
Im Dezember 1993 ging es los. Zusammen mit meiner Frau, meinen zwei Kindern, meinen Eltern und meiner sieben Jahre jüngeren Schwester machten wir uns auf den Weg von Asowo zum Flughafen Omsk. Für ein Flugticket haben wir damals um die 200 D-Mark bezahlt. Zwischenstopp mit ein paar Stunden Aufenthalt war in Moskau, Direktflüge gab es nicht.
Wir landeten in Düsseldorf. Am Flughafen angekommen, nahmen wir von dort den Zug nach Niedersachsen: Unser Ziel war das Grenzdurchgangslager Osnabrück-Bramsche .
Das Durchgangslager in Bramsche war eine alte amerikanische Kaserne. Als wir dort ankamen, war das Lager voll. Kurz vor Weihnachten und Silvester war wirklich jeder einzelne Platz belegt, dennoch funktionierte die Organisation super und wir wurden immer gut versorgt. Ich wohnte mit meiner Familie in einem großen Zimmer mit zwölf Stockbetten, also 24 Plätzen. Deutschland wirkte für uns damals wie ein Märchenland, schöne hübsche Häuser und saubere Straßen. In Bramsche verbrachten wir zwei Monate. Einige Monate vorher, im Juni 1993, waren bereits zwei meiner Schwestern nach Deutschland gegangen, sie wohnten mittlerweile in Hamburg. Nachdem wir weiterziehen konnten, sollte es deshalb auch für uns nach Hamburg zum restlichen Teil unserer Familie gehen. Von Bramsche aus nahmen wir den Zug direkt nach Hamburg-Bergedorf.
Am Bahnhof in Hamburg wurden wir bereits von den verantwortlichen Betreuern empfangen und in das Aussiedlerlager Rothenhauschaussee gebracht, das war direkt in Bergedorf. Hier lebten wir dann ganze zwei Jahre in einer Art Wohncontainer-Unterkunft.
Nach zwei Jahren im Aussiedlerlager erhielten wir endlich unsere erste eigene Vier-Zimmer-Wohnung und blieben in Hamburg-Bergedorf.
Aus der Heimat haben wir nicht viel mitgenommen, das war auch gar nicht möglich: Ein paar Fotos, Urkunden, Dokumente. Ich habe inzwischen die russische und die deutsche Staatsbürgerschaft und bin somit ein Staatsbürger zweier Länder, was mich auch sehr stolz macht. Das, was die Russen ausmacht, Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, das habe ich mitgenommen, fühle mich im Kern aber eher deutsch. Inzwischen ist unsere ganze Familie hier in Deutschland. Familie in Russland habe ich keine mehr.
Alexandra Frank, Studentin, 25, lebt in Berlin
Alexandra Frank, geb. am 23. November 1994 in der Russischen Föderation, mit 5 Monaten nach Deutschland gekommen.
Ich bin in Kimry , im Oblast Twer geboren, so ein Städtchen mit einer Ampel. Wir lebten damals in einem Plattenbau direkt an der Wolga; eigentlich ganz schön.
Es ging nicht darum, dass wir Deutsche waren. Meine Urgroßmutter war die letzte, die noch Deutsch gesprochen hat. Alle haben sich sowjetisch gefühlt, aber die Sowjetunion gab es nicht mehr, außerdem wenig zu essen, kein Geld, keine Jobs. Mein Opa sagt immer, er hätte nie gedacht, dass er jemals nach Deutschland auswandern würde. Aber weil die Lebensumstände Anfang der 1990er Jahre so schwierig waren, hatte meine Oma ihn irgendwann überzeugt zu gehen. Viele andere Verwandte waren schon dort. Daher wussten meine Großeltern, dass das Leben in Deutschland einfacher ist.
Meine Mutter ist mit uns noch in Russland geblieben. Doch irgendwann war die Situation so schlecht, dass sie lieber nachziehen wollte. Doch weil sie sich als 18-Jährige dafür entschieden hatte, die russische Nationalität in ihren Pass eintragen zu lassen, war es für uns komplizierter, den Antrag zu stellen. Im April 1995 sind wir dann nach Deutschland gezogen. Einfach in ein Flugzeug und los.
Ich war damals fünf Monate alt und kenne das alles nur aus Erzählungen, bruchstückhaft, und habe den Schritt nie hinterfragt; mir kam es immer logisch vor, weil die Umstände so schlecht waren und die Möglichkeit bestand.
Kimry habe ich später einmal besucht, letzten Sommer, da war ich 24. Das war ein sehr wichtiges Ereignis in meinem Leben, irgendwie ein Puzzlestück in Bezug auf mich selbst. Vorher war es immer nur ein Ort, den ich zwar immer wieder angeben musste und kannte. Ich wusste aber nicht einmal, wo dieser Ort liegt und hatte bis zu dieser Reise irgendwie auch das Gefühl, nicht so richtig verwurzelt zu sein.
Wir sind dann erst nach Unna-Massen gekommen, waren aber nur ganz kurz da.
In Düsseldorf haben schon unsere Verwandten gewohnt. Sonst war es nicht speziell, halt einfach Westdeutschland, reicher. Mein Opa hat uns eine Sozialwohnung besorgt.
Meine Oma ist oft zu ihren Eltern nach Russland geflogen. Ihr ganzer Koffer war voller Essen, um die Vorräte der Verwandten in Russland aufzustocken. Zurück brachte sie immer etwas mit, daher haben wir viel russisches Zeug zuhause. Mein Opa ist fast nie mit ihr mit, seine Familie lebte ja hier. Nur eine Schwester war in Iwdel geblieben, dem Ort, wo er gebürtig herkommt, um sich um das Grab der Eltern zu kümmern. Damit ihm die Zeit als Arbeitnehmer in der Sowjetunion für die deutsche Rente angerechnet werden konnte, musste mein Opa die russische Staatsbürgerschaft auch ablegen.
Mittlerweile wohne ich in Berlin und studiere in Frankfurt/Oder, das ist mit dem Zug nicht weit. Meine Familie kam mir häufig anders vor als andere deutsche Familien. Dass es daran liegt, dass sie aus der Sowjetunion kommt, habe ich erst richtig verstanden, als ich für mein Auslandsjahr in Russland war.