Victor Dönninghaus
Text: Victor DönninghausTitelbild: Dreschzeit in GlĂŒckstal, Odessa / Foto @ Museum fĂŒr russlanddeutsche Kulturgeschichte, Inv.Nr.: 2017/57802.10.2020

Der russische Publizist und Kritiker des Zarenregimes Alexander Herzen schrieb 1859 in sarkastischem Tonfall: „Auf dem Thron waren Deutsche, neben dem Thron – Deutsche, die Feldherren – Deutsche, die Außenminister – Deutsche, die BĂ€cker – Deutsche, die Apotheker – Deutsche, ĂŒberall Deutsche 
“ 📖 
Auch wenn Herzen – selbst Sohn einer Deutschen aus Stuttgart – hier eine Art „deutschen KlĂŒngel“ suggeriert: Die BĂ€cker, Minister und Feldherren, die Kolonisten, Adeligen und Unternehmer aus deutschsprachigen LĂ€ndern hatten ganz unterschiedliche BeweggrĂŒnde zu ganz unterschiedlichen Zeiten ins Russische Reich gefĂŒhrt. Die verschiedenen sozialen Gruppen von Deutschen hatten lange kaum etwas gemeinsam und sie waren nicht vernetzt, bis sich viele von ihnen ab dem spĂ€ten 19. Jahrhundert zunehmend unter einer KollektividentitĂ€t wiederfanden – die ihnen zunĂ€chst vor allem von Außen zugeschrieben wurde.

Die Handelsbeziehungen zwischen Russland und Deutschland begannen schon zur Zeit der Hanse. Deutsche Kaufleute eröffneten ihre Vertretungen traditionsgemĂ€ĂŸ in der alten Handelsstadt Nowgorod . Mit Beginn der Moskauer Periode der russischen Geschichte verlagerte sich das Zentrum der auslĂ€ndischen Kaufleute im 14. und 15. Jahrhundert von Nowgorod in die neue Hauptstadt der russischen LĂ€nder ‒ nach Moskau. 📖  Die Moskauer GroßfĂŒrsten und Zaren erkannten die Notwendigkeit, auslĂ€ndische Spezialisten fĂŒr die Modernisierung der Wirtschaft und des gesellschaftlichen Lebens anzuwerben, vor allem aber fĂŒr die Schaffung einer Armee nach europĂ€ischem Vorbild. 📖  Vom 15. bis zum 17. Jahrhundert entwickelten sich die kulturellen Kontakte zwischen dem Moskauer Staat und den deutschen LĂ€ndern auf den unterschiedlichsten Gebieten wie MilitĂ€rwesen, Medizin oder Buchdruck. Im 16. und 17. Jahrhundert stieg die Zahl der in russischen Diensten stehenden Deutschen auf mehrere Tausend an. 📖 

Ein einzigartiger Ort des Zusammenwirkens der russischen und deutschen Kultur war Moskau, wo am Ende des 16. Jahrhunderts in Gestalt der „Deutschen Vorstadt“ eine kompakte AuslĂ€ndersiedlung entstand. 📖  Sie diente als Einfallstor fĂŒr westliche Strömungen nach Russland und erlebte zu Beginn der Reformen Peters des Großen eine Periode des Aufschwungs. Es waren deutsche Offiziere, die die ersten Petrinischen Regimenter – das Preobrashenski und das Semjonowski Regiment ausbildeten. 📖  Auch die Bevölkerung der Deutschen Vorstadt setzte sich mehrheitlich aus MilitĂ€rpersonal zusammen. Die ĂŒbrigen Einwohner waren Handwerker wie Waffen- und Goldschmiede, Ärzte und Apotheker sowie Unternehmer – Kaufleute und Besitzer von Manufakturen. Die Kompaktheit der Siedlung und ihre relative Autonomie förderte die Aufrechterhaltung der traditionellen Lebensweise, der sprachlichen Umgebung und der religiösen BrĂ€uche der „Moskauer Deutschen“, wie die Bewohner der Vorstadt genannt wurden.
Der Umzug des Zarenhofs in das 1703 gegrĂŒndete Sankt Petersburg veranlasste viele in russischen Diensten stehende Deutsche, ebenfalls in die neue Hauptstadt zu gehen. 📖  Dazu trugen auch die staatliche Politik der Intensivierung der diplomatischen Beziehungen mit deutschen FĂŒrstentĂŒmern bei sowie die dynastischen Beziehungen zwischen dem russischen kaiserlichen Hof und den deutschen FĂŒrstenhĂ€usern. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten im Russischen Reich bereits rund 400.000 stĂ€dtische Deutsche, davon 40.000 in Sankt Petersburg und 20.000 in Moskau. 📖 

Im Jahr 1763 erließ Zarin Katharina die Große – eine Deutsche auf dem russischen Thron – das „Manifest ĂŒber die den auslĂ€ndischen Einwanderern zu gewĂ€hrenden Vorteile und Privilegien“ 📖 . Damit forderte sie aus deutschen LĂ€ndern kommende Auswanderer, vor allem Bauern, auf, in den noch nicht erschlossenen Gebieten an der Wolga und im Schwarzmeergebiet zu siedeln. Zwischen 1764 und 1772 entschieden sich fast 30.000 aus deutschen FĂŒrstentĂŒmern stammende Siedler fĂŒr die Auswanderung ins Russische Reich. 📖  Als AnhĂ€nger einer der Ă€ltesten Freikirchen, die in den 1530er Jahren in den Niederlanden entstand, siedelten sich ab 1789 auch Mennoniten auf Einladung Katharinas der Großen in Russland an. Anreiz fĂŒr diese Übersiedlung war neben zahlreichen anderen sozioökonomischen Privilegien und VergĂŒnstigungen nicht zuletzt die Befreiung vom Kriegsdienst. 

Die deutschen Kolonisten blieben in der ersten HĂ€lfte des 19. Jahrhunderts eine besondere rechtliche und soziale Gruppe, die gegenĂŒber der Mehrheit der ostslawischen Bauern privilegiert war. Der umfangreichere Landbesitz, die Steuerprivilegien, die Befreiung vom MilitĂ€rdienst und die Selbstverwaltung fĂŒhrten dazu, dass die deutschen Kolonisten wirtschaftlich deutlich besser gestellt waren als ihre russischen oder ukrainischen Nachbarn. 📖  Alexander I. setzte mit seinem Einladungsdekret von 1804 den Einwandererstrom ins Schwarzmeergebiet und in den Kaukasus erneut in Gang. SpĂ€ter wurden die deutschen Kolonisten im Russischen Reich nach ihren jeweiligen Siedlungsgebieten Wolgadeutsche, Schwarzmeerdeutsche, Kaukasusdeutsche, Bessarabiendeutsche, Wolhyniendeutsche oder Sibiriendeutsche genannt. 📖 

Neuen Anreiz fĂŒr Deutsche, nach Russland auszuwandern, bot die Epoche der Napoleonischen Kriege . Aus den durch die Kriege verwĂŒsteten deutschen FĂŒrstentĂŒmern kamen tausende junge, tatkrĂ€ftige Menschen in das befreundete Reich, in der Hoffnung, in Russland eine Karriere im Handel, im MilitĂ€r oder in der Wissenschaft zu machen. Nach Angaben der Allrussischen VolkszĂ€hlung von 1897 lebten 1,8 Millionen Deutsche innerhalb der Grenzen des Russischen Reiches, bei denen es sich in der Mehrzahl (1,4 Millionen) um Kolonisten, also Nachfahren deutscher Bauern handelte. 📖  Sie wohnten in mehr als 3000 deutschen Siedlungen in verschiedenen Regionen des Landes. 📖 
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts war auch der Typ des deutschen Kaufmanns und Industriellen in der russischen Gesellschaft sehr bekannt. So kannte fast jeder in Russland die berĂŒhmte deutsche Fabrik fĂŒr Konfekt, Schokolade und TeegebĂ€ck in Moskau mit dem Namen Einem, die heute Roter Oktober heißt. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts exportierte die Firma nach Persien, China und in den Nahen Osten. Wie der GrĂŒnder dieses Moskauer Schokoladenimperiums Ferdinand Theodor von Einem (1826–1876) waren Anfang des 20. Jahrhunderts etwa 12.000 Russlanddeutsche unternehmerisch tĂ€tig und reprĂ€sentierten eine einflussreiche Gruppe in der GeschĂ€ftswelt der wichtigsten Wirtschaftsregionen Russlands. 📖 

Unter den deutschen Einwanderern gab es Menschen mit verschiedenen Berufen – eine qualifizierte Arbeiterschaft und Handwerksmeister, Dienstleute, PĂ€dagogen und Hauslehrer, Inhaber von Theatern und VergnĂŒgungseinrichtungen. WorĂŒber aber definierten so viele unterschiedliche soziale Gruppen ihr Deutschsein?

Eine besondere Rolle bei der Aufrechterhaltung der deutschen IdentitÀt in Russland kam den Kirchen  zu. Der Gottesdienst in den lutherischen und katholischen Kirchen sowie in den GebetshÀusern der Mennoniten wurde in deutscher Sprache gehalten; die Kirchen unterhielten Schulen unterschiedlichen Typs, die Deutsch als Unterrichtssprache hatten und Kindern aller NationalitÀten und Konfessionen offen standen.

Im Unterschied zu den meisten anderen NationalitĂ€ten, bei denen die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Religion eine der Hauptkomponenten ihrer nationalen IdentitĂ€t darstellte, bestand eines der charakteristischen Merkmale der Russlanddeutschen in ihrer PolykonfessionalitĂ€t. Wenn sich auch sagen lĂ€sst, dass Lutheraner unter den in Russland lebenden Deutschen im Vergleich zu Katholiken ĂŒberproportional stark vertreten waren.

Dies lĂ€sst sich auf eine Reihe historischer GrĂŒnde zurĂŒckfĂŒhren 📖 : Zum einen machte allein schon die Entstehung des Protestantismus aus der Opposition gegen den Katholizismus heraus diesen zu einem potentiellen VerbĂŒndeten der Orthodoxie. Zum anderen nahm das Luthertum auch unter den anderen protestantischen Konfessionen eine Sonderstellung ein und genoss eine gewisse Protektion von Seiten der Regierung. Dies wiederum ließ sich ĂŒber den Gegensatz zum Katholizismus hinaus zum einen auf die Zugehörigkeit einiger Mitglieder der Zarenfamilie (bis zu ihrem Übertritt zur Orthodoxie) zum Luthertum, zum anderen auf dessen starke Verbreitung in den Baltischen Provinzen des Reiches zurĂŒckfĂŒhren.

Es darf nicht vergessen werden, dass gerade die Deutschbalten seit der Regierungszeit Peters des Großen eine wichtige Rolle bei der Modernisierung des russischen Verwaltungssystems spielten. So machten die Deutschbalten Mitte des 19. Jahrhunderts nicht einmal vier Prozent aller Beamten im Russischen Staat aus, doch immerhin zwölf von 113 Mitgliedern des regierenden Senats, neun der 55 Mitglieder des Reichsrats und neun von 48 Gouverneuren. Der Anteil der Deutschbalten an der russischen militĂ€rischen Elite lag noch höher: So waren etwa im April 1914 mehr als 20 Prozent der ĂŒber 1500 russischen GenerĂ€le deutschbaltischer Herkunft. Nicht weniger als 15 Prozent der Offiziere der fĂŒnf höchsten RĂ€nge hatten ebenfalls deutschbaltische Wurzeln. Ein Drittel der Kommandoposten in der russischen Garde war mit Deutschen (in ihrer Mehrheit Deutschbalten) besetzt. Selbst vier von elf Atamanen der MilitĂ€r-Kosaken, vom Kriegsminister persönlich berufen, waren Deutsche. 📖 

Familie Hummel im Kaukasus, 1863 / Foto © Museum fĂŒr russlanddeutsche Kulturgeschichte, Inv.Nr.: A6e HD 2395

Die Deutschen in Russland lebten also gleichzeitig in zwei Welten – sie bildeten einen unabdingbaren Teil sowohl der deutschen, als auch der russischen Geschichte und Kultur. Dabei entstand in den einzelnen Gruppen der Russlanddeutschen eine besondere Lebensweise, die einerseits von Akkulturation geprĂ€gt war und andererseits von dem BemĂŒhen, die eigene IdentitĂ€t zu bewahren.

Trotz ihrer engen und vielfÀltigen Kontakte mit der russischen Bevölkerung konnten die deutschsprachigen Einwohner Russlands mehrere Jahrhunderte hindurch in Kirchen, Schulen und Vereinen ihre Sprache, Konfessionen, kulturellen Traditionen, Fertigkeiten und GebrÀuche bewahren und pflegen.
Am markantesten zeigte sich diese EigenstĂ€ndigkeit der Deutschen allerdings im lĂ€ndlichen Raum, wo sie ĂŒber Jahrhunderte mehr oder weniger abgeschlossen siedelten. Sie waren im besten Sinne des Wortes Reisende zweier Welten – der russischen, in der sie lebten, und der deutschen, aus der sie stammten.
Diese hybride und binĂ€re IdentitĂ€t wurde den Deutschen in Russland erst im Laufe der Zeit zunehmend abgesprochen – und durch homogenisierende und essentialistisch begriffene IdentitĂ€tsangebote ersetzt.

WĂ€hrend der Nationalisierung in der zweiten HĂ€lfte des 19. Jahrhunderts wurden Debatten ĂŒber die Kolonisten an der Wolga und in Wolhynien pauschal als „deutsche Frage“ verhandelt. Zunehmend nationalistische Töne standen dabei immer in Wechselwirkung mit den Ereignissen in den deutschsprachigen LĂ€ndern selbst, etwa der Entstehung des Deutschen Reiches 1871.

WĂ€hrend des Ersten Weltkriegs wurde die kulturelle BinaritĂ€t der Deutschen in Russland weiter von Außen in Frage gestellt, als man die Vorstellung kulturell-historischer Gemeinsamkeiten durch die Forderung nach staatlichem Patriotismus zu ersetzen suchte – hier wie dort.

Unmittelbar nach Ausbruch der Kriegshandlungen 1914 stellten die russischen Behörden die auf ihrem Territorium lebende deutsche Bevölkerung unter besondere Kontrolle. 📖  Die antideutschen Kampagnen beschrĂ€nkten sich nicht nur auf politische Repressionen, sondern schlossen auch Sprache und Religion betreffende Diskriminierungen sowie ein faktisches Verbot kulturell-aufklĂ€rerischer und ökonomischer AktivitĂ€ten und Enteignungen nach nationalen Kriterien ein. 📖  Die Maßnahmen richteten sich nicht nur gegen StaatsbĂŒrger der verfeindeten Staaten Deutschland und Österreich-Ungarn, sondern auch gegen deutschstĂ€mmige russische Staatsangehörige. 📖 

Die NationalitĂ€tenpolitik der Bolschewiki schließlich erfasste die deutschsprachigen Gruppen ungeachtet ihrer sozialen, dialektalen oder konfessionellen Unterschiede einheitlich als nemcy (Deutsche). Was zunĂ€chst wie eine affirmative action fĂŒr die deutschsprachige Bevölkerung in Russland wirkte – etwa durch Errichtung der Autonomen Wolgarepublik  1924 –, zeigte bald seine Kehrseite: Mit Beginn des Krieges gegen Deutschland 1941 wurden Hunderttausende Deutsche pauschal als „VerrĂ€ter“ verurteilt  und aus ihren Wohnorten nach Sibirien, Kasachstan und Mittelasien deportiert. 📖 

Diese Tragödie ist zu einem gemeinsamen Schicksal der Russlanddeutschen geworden, einem neuen Ausgangspunkt in der Geschichte und im Selbstbewusstsein eines ganzen Volkes. Deportation und Zwangsarbeitsregime (trudarmija ) haben die Russlanddeutschen umwĂ€lzenden und einschneidenden sozialen VerĂ€nderungen unterworfen. 📖  Erst in den Deportationsgebieten bildete sich der Typus des „Russlanddeutschen“ im eigentlichen Wortsinn heraus, da aus verschiedenen Regionen des Landes stammende stĂ€dtische Deutsche und lĂ€ndliche Kolonisten in den Arbeitslagern und Sondersiedlungen zusammengeworfen und gemischt wurden. Erst hier wurde die gemeinsame IdentitĂ€t der entrechteten deutschen Minderheit entwickelt, die gemĂ€ĂŸ der stalinistischen Propaganda unabhĂ€ngig von Wohnort, sozialem Status, religiöser Zugehörigkeit und sogar Zugehörigkeit zu Partei oder Komsomol zur „FĂŒnften Kolonne “ Hitlers gezĂ€hlt wurde. 📖 

Der Begriff der „Volksgruppe“, der aus den völkisch-nationalen Diskursen der 1930er und 1940er Jahren rĂŒhrt, sollte daher auch in Bezug auf die Russlanddeutschen heute vermieden werden: Die essentialistische Vorstellung von einer vermeintlich homogenen Gruppe wird den vielfĂ€ltigen und hybriden IdentitĂ€ten der Russlanddeutschen nicht gerecht – weder in ihrer Geschichte noch in der Gegenwart. 📖Â